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NEUE ZÜRICH ZEITUNG ÜBER SIMONE BLATTEN

Volle Pulle

Sie ist berühmt für ihre Vitalität und berüchtigt für Radikalität;

Die Schweizerin Simone Blattner nimmt sich am Neumarkt Ben Jonsons «Volpone» vor.

Ihr Gesicht ist sprechende Leidenschaft, wegsehen gilt nicht. Die Augen schleudern Blitze: «Die Figuren sind unglaublich vital!», die Stirn legt wilde Wellen: «Ich bleibe nicht im Realismus stecken!» Die Hände fliegen wie Kolibris, und man ahnt: Diese Energie ist Kapital, krisenresistent und kampfeslustig.

Seit acht Wochen ackert Simone Blattner an einem Stoff, der sie fordert, wie wenige zuvor, Ben Jonsons Komödie «Volpone» in der Bearbeitung von Stefan Zweig. Die Latte liegt hoch, und das soll sie; die Regisseurin ist eine Lust-gedopte Fünfkämpferin (in Bezug auf die Interpretation: risikofreudig, rigoros und radikal, radikal, radikal), die es liebt, ihre Phantasie mit beiden Händen in die Übersetzung von Bühnenvorgängen zu investieren. Je kruder die Ausgangslage, umso krasser der (Zu-)Biss. Das hat im Theater Neumarkt bereits zum Erfolg geführt. Oliver Bukowskis schwarz gebranntes Weihnachtsmärchen «Hello Lucy, Goodbye Lucy» mauserte sich in Blattners hochtouriger Lesart zum Kultstück. Ihre Familie Zimtkringel war entschieden das vollfetteste Weihnachtsgebäck der Theatersaison 99. Mit nachhaltiger Wirkung . . .

. . . bis in die Gegenwart, die Einladung zur zweiten Inszenierung, ein Klassiker dieses Mal. Die Wahl eines Shakespeare-Zeitgenossen mag überraschen. Und ist doch folgerichtig in der Karriere der Baslerin, die die renommierte Falckenberg-Schule durchlief und ihre ersten Meriten am Bayerischen Staatsschauspiel einsammelte. Das war 1997 bis 1999, und Simone Blattner war am Residenztheater mit einem Zweijahresvertrag beschäftigt. Eine Chance, sich auszuprobieren, gehalten in der Sicherheit, scheitern zu dürfen. Ausprobiert wurden moderne und zeitgenössische Autoren und Autorinnen, Max Mohr, Arthur Miller, Albert Camus, Agota Kristof. Formal orientiert und inspiriert von Meyerholds System der Biomechanik. Und dann, diesen Februar, in Mannheim Shakespeare, «Wie es euch gefällt». Der Bruch mit den Zeitgenossen kam bruchlos, denn Blattner hatte die Lust an Klassikern seit je verspürt; bereits bei der Regie-Prüfung hatte sie sich für Shakespeare entschieden und, wie gesagt: kam, sah und siegte. Keine Frage, «Volpone», die Geschichte des betrogenen Betrügers, der sein Vermögen unter Ausnutzung der Habgier seiner «Freunde» vermehrt, muss Blattner begeistern. Die Figuren sind im Stil der Commedia dell'Arte grell gezeichnet, sie entsprechen Tiernamen und drücken, symbolisch, deren Charaktere aus: in den Hauptrollen Volpone, der Fuchs, und Mosca, die Schmeissfliege; das übrige Personal rekrutiert sich aus Geier, Habicht, Krähe . . . Blattners Erfindungsgabe loderte hell, wobei sich der Versuch, die Figuren zu überhöhen und ihre Sprache zu verdichten, bald als Gratwanderung entpuppte.

Und dennoch: Die Masslosigkeit des menschlichen Bestiariums von gestern - hier in einer Zeit zwischen Shakespeare und heute verortet - liess sich griffig kurzschliessen mit der aktuellen gesellschaftlichen Wirklichkeit: den Schlagzeilen um Boni und Abgangsentschädigungen. Maren Rieger, die diskrete Dramaturgin, formuliert es so: «Ich finde seit ‹Volpone› die Wirtschaftszeitungen spannender.» Diskretion darf von Blattner nicht erwartet werden. Wenn Jonson zeigt, welche Grenzen Menschen überschreiten, um an (noch mehr) Geld und Macht zu kommen, soll ihre Inszenierung ebenfalls Grenzen ausreizen - Konvention und Tradition. Dafür hat Simone Blattner «volle Pulle» gearbeitet.

Daniele Muscionico

NZZ / Neue Zürich Zeitung

Zürich, 17. Mai 2001

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